Aus der Predigt zur Bischofskonferenz

In der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 19.2.2024 in Augsburg predigte der Vorsitzende, der Limburger Bischof Georg Bätzing, über das Tagesevangelium vom Weltgericht Mt 25,31-46: ... Eine weitere Einsicht verdanke ich der Beschäftigung mit dem Evangelium heute. Mir wurde klar, wie sehr die Deutung biblischer Texte beeinflusst wird von wechselnden persönlichen und gesellschaftlichen Situationen. Üblicherweise wird die Rede des wiederkommenden Menschensohnes im Sinne einer umfassenden Humanität ausgelegt. Wenn das Gericht jede und jeden trifft, dann werden alle, die nicht oder nicht ganz zum Glauben an den Erlöser Jesus Christus finden konnten, nach dem Kriterium beurteilt, ob sie ihren Mitmenschen in Not beigestanden haben. „Hier auf den Straßen der Welt findet das Jüngste Gericht statt. Die Armen werden unsere wahren Anwälte sein“ (Vincenzo Paglia). Diese Auslegung gilt, und ihr Impuls ist zutiefst christlich. In einer christlichen Mehrheitsgesellschaft kämen wir kaum auf die Idee, uns Glaubende als diejenigen zu denken, die selbst Hilfe und barmherziger Zuwendung bedürfen. Doch genau das war nach Meinung der meisten Exegeten die eigentliche Stoßrichtung des Evangelisten. Als Matthäus sein Evangelium schrieb, da hatten sich in vielen Städten der damals bekannten Welt bereits kleine christliche Gemeinden gebildet. Viele waren in Bedrängnis wegen ihres Glaubensbekenntnisses; Hunger, Durst, Armut, Obdachlosigkeit und Gefangenschaft gehörten zum Alltag. Auf geradezu anstößige Weise identifiziert sich der Menschensohn mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Sie, die er in alle Welt ausgesandt hat, sind mit den „geringsten Brüdern“ gemeint, nicht alle Notleidenden dieser Welt. Und wenn der Weltenrichter kommt, womit die frühe Christenheit bald rechnete, dann werden die anderen danach beurteilt, wie sie sich gegenüber den kleinen christlichen Gemeinschaften verhalten haben. Haben sie ihnen geholfen, dann haben sie auch Anteil am Reich Gottes. Für unsere Ohren klingt eine solche Auslegung immer noch ungewohnt, kaum zu glauben. Sie mag ja gelten für die vielen, die in unseren Tagen wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt und benachteiligt werden; sie dürfen aus der Rede des Menschensohnes Zuversicht schöpfen. Aber wir? Wenn es jedoch so ist, dass wir als Gläubige zunehmend zu einer Minderheit werden und die Kirche zur Diasporagemeinde, dann dürfen wir uns mit diesem Evangelium die Frohe Botschaft sagen lassen: Gott hat die Rettung der Welt an das gebunden, was er mit Abraham begonnen hat. Israel und die Kirche sind Gottes Werkzeug zum Heil aller Menschen. Und ich ahne, was das heißt: Wir selbst als Kirche brauchen die Zusage Jesu und seine mitfühlende Nähe. Von uns, den Glaubenden, verlangt die Jüngerschaft nämlich viel, ein Bekenntnis, das sich in unserem ganzen Leben buchstabiert. Als Minderheit werden wir zunehmend darauf angewiesen sein, dass man uns einlädt, unseren Argumenten zuhört, mit uns zu kooperieren bereit ist in den vielen herausfordernden gesellschaftlichen Fragen, die nach Lösungen rufen. Als Einzelne und als Kirche haben wir uns längst noch nicht an diese Situation gewöhnt und die nötige Bescheidenheit gelernt. Da ist es gut, Gesprächspartnern zu begegnen, die zuhörend, mitfühlend und Trost spendend unsere Anliegen aufnehmen und unterstützen. Es hilft zu wissen, dass sich der Menschensohn auch mit uns heute identifiziert – und anderen ihre Menschlichkeit lohnt. Ja: „Das Evangelium wird von denen ganz verstanden, die es wirklich brauchen“ (Fulbert Steffensky).